AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe
18/10/2022

AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe

Madonna (64) ist nicht die einzige Frau, die mit einem viel jüngeren Liebhaber (27) unterwegs ist. Im Film «AEIOU» erleben wir eine Liebesgeschichte zwischen der 60-jährigen Anna (Sophie  Rois) und dem Jugendlichen Adrian (Milan Herms, geschätzt etwa 20 Jahre alt, laut Flyer zum Film aber erst 17-jährig). Doch Vorsicht: Wer erwartet, der Film vertiefe, was eine Beziehung mit grossem Altersunterschied bedeutet, wird enttäuscht. Beziehungsweise: Es ist gerade eine Stärke dieses Films, dass die gut vierzig Jahre, die zwischen Anna und Adrian liegen, sehr rasch keine Rolle mehr spielen. Es handelt sich insofern auch um keine «unmögliche Liebesgeschichte», wie der Flyer weismachen will. Gefunden haben sich primär nicht eine ältere Frau und ein Jugendlicher, sondern zwei Menschen in einer Krise ihres Lebens, in einer Situation des Umbruchs, in der sie sich in einer in sich stimmigen Beziehung gegenseitig zur Stütze werden und sich helfen, eine Perspektive für ihre Zukunft zu entwickeln: Anna, die Schauspielerin, die in ihrem Alter kaum mehr Rollen angeboten bekommt und sich auch nicht mehr alles gefallen lassen will. Adrian, der in Pflegefamilien aufwächst, immer mehr auf die schiefe Bahn gerät und kein Vertrauen in seine Stärken entwickeln konnte. Ja, zwischen Anna und Adrian «klappt es», wie die Regisseurin in einem Interview bemerkte. Es geht um die Liebe zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig ermächtigen, sich aufeinander einlassen, ohne zu richten oder festzuschreiben, was war und ist und allenfalls sein wird.

Zunächst sieht es allerdings nicht danach aus, als ob die Wege der beiden sich im richtigen Augenblick kreuzen würden. Anna ist in Berlin unterwegs, als ihr auf offener Strasse die Handtasche entrissen wird. Halt findet sie vor allem bei ihrem Vermieter und Freund Michel (wunderbar wie immer gespielt von Udo Kier). Ihr Arzt überredet sie, einem jungen Mann mit Sprachstörung Unterricht zu geben: Adrian! Beiden gelingt es, ihre erste Begegnung wegzustecken und dem Wink des Schicksals durch ihre zweite Begegnung zu folgen. Anna blüht auf in ihrer Aufgabe, und Adrian überwindet seine Sprachstörung so weit, dass er in einem Theaterprojekt brillieren kann. Schliesslich packt Anna ihren Koffer und verlässt zusammen mit Adrian das (auch von den Farben her) eher düstere Umfeld Berlins Richtung Côte d’Azur, die sie in hellen, prächtigen Farben erwartet. Hier läuft dann allerdings auch nicht alles rund, so dass wir es immer mehr mit einem Kriminalfilm zu tun haben.

Die Regisseurin Nicolette Krebitz hat ein Werk geschaffen, das vermutlich auch polarisieren wird. Man kann sich ärgern über einzelne Sequenzen, die völlig überladen, allenfalls auch unnötig scheinen. So trägt der nackte Adrian nach dem (unvermeidlichen) nächtlichen Bad im Meer die ebenfalls nackte Anna durch die Gassen der südfranzösischen Stadt auf seinen Armen zurück ins Hotel (wo sind die Kleider geblieben?). In einer berührenden Szene reisst Adrian ein Loch in eine Zeitung und erklärt Anna, nicht was in der Zeitung stehe, sondern was durch jenes Loch zu sehen sei, sei das wahre Leben. Dass die beiden danach mit durchlöcherten Zeitungen über dem Kopf auf Diebestour gehen und alles mitlaufen lassen, was nicht niet- und nagelfest ist, kann sein, muss aber nicht. Wie gesagt: Man kann den Film aufgrund solcher Szenen verärgert abtun – oder man kann sich mitreissen lassen, gleichsam mitschwimmen im Strudel all des Möglichen und Unmöglichen, all des Verrückten und gleichzeitig Berührenden und Zärtlichen, was Anna und Adrian erleben und sich schenken. Im letzteren Fall wird man die Vorführung erheitert und leichten Sinnes verlassen.

Anna kommentiert ab und zu aus dem Off, was in ihr vorgeht (gesprochen in der 3. Person Singular). So auch zum «A», mit dem alles anfange: «Das Leben, der Schmerz, die Erkenntnis und die Liebe». Das «A» sei immer schon da, aus diesem entwickle sich alles Weitere. Dass der Film dann beim «A» stehen bleibt und das weitere Buchstabieren über E, I, O und U wegfällt, ist verzeihlich. Immerhin gibt es den Zuschauenden die Möglichkeit, den Film bzw. dessen Geschichte selbständig weiterzudenken und so zu einem (eigenen) Ende zu bringen.

Bericht von Hermann Kocher

«AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe»; Deutschland/Frankreich 2022; 104 Min.; Drehbuch und Regie: Nicolette Kebitz; Darsteller:innen: Sophie Rois, Milan Herms, Udo Kier, Nicolas Bridet.

Startdatum im Kino: 10. November 2022

Bildnachweis: https://www.movies.ch/de/film/aeioudasschnellealphabetderliebe/