15/09/2022

FLEE

Für Amin ist Heimat dort, wo er sich sicher fühlen, wo er bleiben kann, wo es ihm gelingt, sich eine Existenz aufzubauen. All das hat sich eigentlich in Dänemark erfüllt. Er ist beruflich erfolgreich, hat Lehraufträge in den USA, hat seinen Partner geheiratet und zieht mit diesem zusammen in ein Haus. Doch vorab ging nach einer auch unbeschwerten Kindheit in Kabul eine jahrelange Flucht. Und genaugenommen war Amin auch in der Sicherheit gewährenden Umgebung von Dänemark weiterhin auf der Flucht, nicht wirklich angekommen. Er musste ein Lügengebilde aufrechterhalten, das ihm seinerzeit ein Schlepper eingebläut hatte, damit er Asyl bekam. Eine Geschichte über den angeblichen Tod seiner ganzen Familie, was ihm nicht nur den Kontakt zu dieser erschwerte, sondern ihn zusätzlich zum «Fremden» im Asylland machte. Er durfte nicht ehrlich und offen über sich und seine Vergangenheit sprechen, nicht mal seinem Partner gegenüber.

Doch nun wollte Amin – langsam auf die vierzig zugehend – diesen Druck loswerden und seine «wahre» Geschichte mit jemandem teilen. Er vertraute sich seinem ehemaligen Schulkollegen Poher Rasmussen an, vor dem er sich gleichsam auf die Couch legte und seinen Weg ins Asyl nachzeichnete. Die Verwandtschaft weiterhin zu verleugnen, hatte nun keinen Platz mehr.

Rasmussen, der Regisseur von «Flee», entschied sich, diese Geschichte auf die Leinwand zu bringen. Er wählte dazu die Form des Animationsfilms, um Amin und dessen Familie zu schützen und jenem das Berichten leichter zu machen. Spannend ist dabei, dass Amin (der Name wurde geändert) genauso wie Rasmussen die Passagen ihres Gesprächs im dänischen Original selbst sprechen.

Der Animationsfilm ist unterbrochen durch Schnipsel von Dokumentarfilmen, die vor allem das Leben im Kabul der achtziger Jahre nahebringen. Ob diese Ausweitung zu einem dokumentarischen Animationsfilm (darüber hinaus, dass der Film sich an einer «wahren Begebenheit» orientiert), nötig ist, bleibt fraglich. Offen bleibt auch, welches der Zweck dieser Filmpassagen ist: Sollen sie der Geschichte von Amin zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen? Die (weit überwiegenden) Animationsteile benötigen an sich keiner Ergänzung. Sie gehen unter die Haut, wie es nicht jedem Spiel- oder Dokumentarfilm gelingt. Die Personen und ihr inneres Erleben werden sicht- und spürbar auch ohne ergänzende Archivbilder. Der Animationsfilm widerlegt überdies einmal mehr das Vorurteil, dass ein solcher sich vor allem an Kinder richte und einen Sachverhalt nur holzschnittartig zur Darstellung bringe.

«Flee» ist ein Film, der, wie der Titel sagt, zunächst mal eine Flucht und ihre schlimmsten Begleiterscheinungen nachzeichnet. Im Afghanistan unter russischem Einfluss und den sich anbahnenden Bürgerkriegswirren mit dem Vordringen der Mudschaheddin war Amins Vater verschleppt und vermutlich umgebracht worden. Ende der 80er Jahre mussten Amin, damals etwa sechs Jahre alt, zusammen mit der Mutter und Geschwistern fliehen. Die Schwestern konnten sich nach Schweden retten, kamen aber in einem Container dabei fast ums Leben. Amin, die Mutter und ein Bruder versteckten sich jahrelang in Moskau. Ein Fluchtversuch über die Ostsee unter schwierigsten und menschenunwürdigen Bedingungen scheiterte. Schliesslich schaffte Amin es allein mithilfe eines Schleppers nach Dänemark, wo er als angeblicher Flüchtlingswaise bleiben durfte.

«Flee» zeigt darüber hinaus auf, wie das Leben Amins aufgrund seiner sexuellen Orientierung zusätzlich erschwert wurde. Dieser Aspekt ist ein zentraler Teil des Films, wird aber nie reisserisch oder aufgesetzt behandelt. Als Homosexueller hätte Amin sich in Afghanistan nicht sicher fühlen können. Und im Exil bleibt es ihm lange Zeit verwehrt, seine Homosexualität seiner Familie gegenüber zu offenbaren. So wie die Flucht nach jahrelangen Entbehrungen für Amin und seine Familie zu einer Existenz mit einer hoffnungsvolleren Perspektive führt, gelingt es Amin mit der Zeit, offen zu seiner Homosexualität zu stehen, einen Partner zu finden und seine Angehörigen in Schweden mit seiner Homosexualität zu konfrontieren. Der Film bekommt hier auch eine heitere Seite. Nachdem Amin sich offenbart hat, packt ihn sein älterer Bruder wortlos und setzt ihn ins Auto. Die erschrockenen Blicke der übrigen Familienmitglieder lassen vermuten, dass Amin nun in ein Bordell geführt wird, um ihn gleichsam auf den «richtigen Weg» zu bringen. Vielmehr führt der Bruder Amin jedoch zu einer Schwulendisco und drückt ihm ein paar Scheine in die Hand, damit er dort einen Abend geniessen konnte.

Schliesslich berührt «Flee» auch durch die Art, wie Rasmussen seinen Freund begleitet. Aufmerksam und einfühlsam macht er sich mit diesem auf den Weg und lässt ihm jeweils die Zeit, die er braucht, um über seine Verletzungen, die Wunden und Narben aus der Zeit der Flucht und des Lebens in Dänemark zu sprechen.

Entstanden ist ein überzeugender Animationsfilm, der betroffen macht. Ein Film über Freundschaft und das Eröffnen von Perspektiven, über das «Ankommen» in mehrfacher Hinsicht: als geflüchtete Person, als Schwuler sowie im Rahmen eines «reinigenden» freundschaftlichen Gesprächs, das es erlaubte, nach Jahren der Flucht und des Verbergens seiner wahren Identität auf- und durchzuatmen, zur Ruhe zu kommen.

«Flee» ist zurecht an verschiedenen Filmfestivals für eine Preis nominiert worden und hat diverse Auszeichnungen erhalten. Kurz nach der Präsentation in ausgewählten Kinos ist er nun als Stream (cinefile.ch / filmingo.ch) oder DVD erhältlich.

Hermann Kocher

«Flee», Dänemark/Frankreich/Schweden/Norwegen 2021; 90 Min.; Regie: Jonas Poher Rasmussen; Drehbuch: Jonas  Poher Rasmussen und Amin Nawabi; Darsteller (aus dem Off) als sich selbst: Jonas Poher Rasmussen und Amin Nawabi.