Der spezielle Film

Una mujer fantástica («Eine fantastische Frau»)

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Es beginnt alles friedlich. Der 57-jährige Orlando und die wesentlich jüngere Transfrau Marina sind ein Paar, das sich offensichtlich gefunden hat. Marina arbeitet als Kellnerin und Sängerin. Orlando holt sie ab, um ihren Geburtstag zu feiern. Als die beiden die Nacht gemeinsam verbringen, bricht Orlando aufgrund eines Aneurysmas zusammen. Er verletzt sich zusätzlich, als er auf dem Weg ins Spital die Treppe hinunterstürzt. Im Spital verstirbt er.

Marina, die verdächtigt wird, an Orlandos Verletzungen mit Todesfolge schuld zu sein, wird von einem Polizisten, einer Kriminalbeamtin und einem Arzt herablassend und demütigend behandelt – so wird sie von allen geduzt. Mit Ekel und Verachtung einer «perversen» Person gegenüber wird nicht zurückgehalten. Aber es kommt noch schlimmer: Die Familie von Orlando verbietet Marina, am Ritual der Totenwache oder an der Beisetzung ihres Geliebten teilzunehmen. Die Exfrau von Orlando beansprucht dessen Auto für sich und fordert Marina auf, das Appartement, in der das Paar gewohnt hat, unverzüglich zu verlassen. Der Sohn Orlandos und dessen Kumpel oder Brüder wenden sogar körperliche Gewalt gegen Marina an. Für diese Männer ist sie eine «Missgeburt» und «Schwuchtel». Nur ein Bruder Orlandos zeigt Verständnis für dessen Beziehung mit Marina.

Der in Argentinien geborene, heute in Chile wirkende Filmregisseur und Drehbuchautor Sebastián Lelio hat einen äusserst eindrücklichen Film über das Ergehen einer Transfrau geschaffen. Die Formen der Diskriminierung und Ächtung im Alltag Chiles werden ebenso deutlich wie das Bild eines Familiensystems, in dem die Beziehung eines Mitglieds mit einer Transperson als Schande, als Tabu betrachtet wird. Der Film wurde 2018 mit dem Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film ausgezeichnet. Die Ökumenische Jury verlieh dem Werk Lelios anlässlich der Berlinale 2017 eine «Lobende Erwähnung».
Den Film ausschliesslich als Transgender-Beitrag zu bezeichnen, greift allerdings zu kurz. Es handelt sich um das Porträt einer Frau, die zu sich finden will. Spannend ist das Motiv des Spiegels, das öfters vorkommt. Einmal legt Marina einen Spiegel auf ihre Vulva, und betrachtet sich selber darin. Dass hier ihr Gesicht sichtbar ist und nicht die Geschlechtsorgane, zeigt, dass die Geschlechtsidentität primär damit zusammenhängt, wie eine Person sich «sieht», und nicht anhand von Geschlechtsorganen bestimmt werden kann. Im Film geht es insofern um eine Frau, die ihre Identität gegen aussen konsequent verteidigt – eine starke, mutige, würdevolle, eben «fantastische» Frau. Dass sie mit einem Schlüssel ein Kästchen öffnet, das Orlando in einer Sauna gemietet hatte, und dieses leer vorfindet, kann gedeutet werden als: «ich muss und will meinen Weg gehen.»

Beeindruckend, stimmig und facettenreich wird Marina von der Transfrau Daniela Vega verkörpert, die bislang kaum Erfahrungen als Film-Schauspielerin hatte. Zunächst war sie als Beraterin zum Filmprojekt hingezogen worden, wurde dann aber rasch von Lelio mit der Rolle, die den ganzen Film trägt, beauftragt.

Der Film ist nicht zuletzt auch ein Plädoyer für das Recht, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu dürfen. Orlandos Exfrau und die Angehörigen vereiteln Marina dieses Recht mit allen Mitteln. Die Angelegenheit mit einer finanziellen Abfindung, «wie unter zivilisierten Menschen üblich», zu regeln, lehnt Marina ab. Sie scheitert mit ihren Versuchen, zusammen mit Angehörigen Orlandos von diesem Abschied zu nehmen. Schlussendlich ist sie es dann aber, die als Einzige im Krematorium anwesend ist, als der Leichnam Orlandos verbrannt wird.

Ein (mich) äusserst berührender Film, der sich auch für einen Kirchenkino-Anlass eignet und verschiedenste Pisten für eine vertiefende Diskussion eröffnet.

Hermann Kocher

Regie: Sebastián Lelio; Chile / Deutschland / Spanien / USA 2017; 104 Min.; Verleih: Piffl Medien GmbH, Berlin (pifflmedien.de)